Heimatbesuch. Oder: als Kind war alles ganz normal

Als Kind war alles ganz normal. Viele viergeschossige Wohnblöcke, je vier bis sechs Eingänge. Sozialer Wohnungsbau Ende der 60er Jahre. Dazwischen große Wiesen zum spielen. In der Grundschule waren wir Kinder, viele Kinder, auch alle zusammen Erst mit 10 Jahren trennten sich die Wege – Hauptschule (mit manchmal anschließender Realschule) oder Gymnasium. Mein Bruder und ich waren die Exoten im Wohnblock, beide gingen wir aufs Gymnasium („Warum denn gleich beide?“). Und wir blieben – mit einem Mädchen später – auch die einzigen in 50 Jahren.

Im Haus hatte der Hausmeister den Fahrradkeller zu einer Hauskneipe umgebaut und ab Nachmittag trafen sich dort die Männer und einige Frauen. Der Alkohol war allgegenwärtig. Und auch die Polizei kam oft ins Viertel. Später hörte ich dann Polizisten sagen „das Viertel kennen wir gut“.

Aber als Kind war das alles normal. Ich fiel nur auf, dass ich fast täglich in der Bücherei war und nicht so viel draußen spielte. Die „Ritter von Burg Schreckenstein“, „Fünf Freunde“, etc. waren meine Welt.

Mein Schild »Autos töten« im Fahrrad-Rahmendreieck wurde kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen, als ich älter war und mich der Umweltbewegung zuwendete. Aber das wurde akzeptiert. War mein Vater doch integriertes Mitglied der Hauskneipe und vergaß häufig, dass das als selbstständiger Maler verdiente Geld nicht netto, sondern brutto ist. Und er merkte auch nicht, dass sie ihn beim Kartenspiel über die Ohren hauten. Dafür lernte ich, wie man von einem Großkunden unauffällig 8.000 DM-Rechnungen in Bar bezahlen lässt und mit dem Geld im Bus heimfährt, damit wir erst die Lieferantenrechnungen bezahlen können und danach der Wirt seinen Anteil bekommt. Aber alles war für mich normal. Und es war normal, dass man Geld ausgibt, wenn es da ist. Und es war normal, sein Taschengeld durch Jobs zu verdienen, um sich das leisten zu können, von dem die Freunde am Gymnasium erzählten. Und ich lernte, dass wir die falsche Zeitung lasen, die Abendzeitung und später den Münchener Merkur anstelle der SZ.

Von den alten Bewohnern des Hauses aus meiner Elterngeneration leben nur noch wenige. Leberschäden, Krebserkrankungen, etc. … Von den Hauskneipenbesuchern gibt es niemanden mehr. Auch mein Vater starb schon vor 26 Jahren mit 49. Als er starb, waren meine Eltern schon vier Jahre geschieden. Seine jüngere Schwester (eine von 12 Geschwistern) und ich saßen in der Todesstunde an seinem Krankenhausbett.

Aber alles war irgendwie normal, ich kannte keine andere Welt. Erst einen Monat vorher war ich von Zuhause ausgezogen.

Ab diesem Jahr änderte sich vieles, fast alles. Ich engagierte mich in der Umweltbewegung, studierte Soziologie, trat bei den GRÜNEN ein, wurde U-Bahnfahrer, begann zu reisen, verließ München.

Wenn ich heute zurückdenke an den Wohnblock, in welchem meine Mutter noch wohnt bis zu ihrem Tod 2019 wohnte, kann ich gar nicht mehr verstehen, wie wenig ich früher sah. Im Bus, auf den Straßen und Spielplätzen, den Gehwegen und den Hausfluren – heute erkenne ich die Lebensmilieus sehr schnell. Und ich weiß, dass es einzig und alleine meiner Mutter zu verdanken war, dass mein Bruder und ich aufs Gymnasium und später auf die Uni gehen konnten – gegen all die offenen und latenten Widerstände in der Nachbarschaft, auch bei meinem Vater. Danke!

Ja, als Kind und Jugendlicher fand ich alles völlig normal. Die Erinnerung rufe ich mir manchmal in den Kopf zurück, wenn ich zu verstehen versuche, warum Menschen sich so vehement gegen alles Neue und Fremde wehren, rechts wählen und Parolen schreien. Ich kenne diese abgeschotteten Milieus, die nikotin- und alkoholgeschwängerten Kneipen. Vielleicht haben sie nie die Chance bekommen, etwas anderes kennen zu lernen. Und es ist mir klar, wie stabil diese Milieus sind.

Aber ich weiß auch, dass Milieu kein Schicksal ist. Nur Vergangenheit.

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