Wenn ich noch zwei Jahre hätte (oder zehn, oder zwanzig, oder …)

20161127_161309-1328x747Eines der größten Privilegien hier und heute zu leben, ist die Vielzahl an Möglichkeiten, das Leben ganz nach seinen Wünschen leben zu können. Die meisten Menschen hier in Mitteleuropa sind von der absoluten Überlebenssorge befreit, welche noch vor wenigen Generationen den Alltag großer Bevölkerungsteile prägte. Die Grundbedürfnisse des Obdaches, der Nahrung und der Kleidung sind gedeckt – wir können uns also dem Leben selber zuwenden.

Doch was mache ich? Unsere Multioptionsgesellschaft, die Erwartungen und Zwänge unseres sozialen Umfeldes sowie eigene Idealvorstellungen schaffen ganz neue Probleme. Wir bräuchten mehrere Leben, um nur annähernd all das zu leben, was denkbar wäre. Beruf, körperliche Fähigkeiten, Reisen, Sprachen, Lebensstil, Wohngegend, Religion, … wir haben im Prinzip die freie Wahl und nur verhältnismäßig wenig hängt vom großen Limitierer Geld ab.

Häufig liest man den Kalenderspruch-Satz „Lebe jeden Tag so, als ob er Dein letzter wäre“, oder den Klassiker „Carpe diem“ (pflücke den Tag), der im Film „Der Club der Toten Dichter“ zur Volksbildung wurde. Wenn man mal die Banalität beiseite lässt, dass wir eben in der Regel nicht nur einen Tag lang leben und unser Lebensstil durchaus von längerfristiger Perspektive abhängt, bleibt eine spannende Frage:

Wie würde sich mein Verhalten ändern, wenn ich wüsste, dass ich nur noch eine begrenzte Zeitspanne zu leben hätte. Sterblich sind wir ja alle, theoretisch könnte es morgen, ja sogar in der nächsten Sekunde zu Ende gehen. Aber das ist ein im Alltag ignoriertes Wissen, zumindest dann, wenn wir nicht von einer lebensverkürzenden Erkrankung betroffen sind oder im hohen Alter sind.

Trotzdem: Wie würde sich mein Leben verändern, wenn ich wüsste, dass mir noch 9 Monate, zwei Jahre, 5 Jahre, 10 Jahre, 20 Jahre, 30 Jahre blieben?

  • Welche Vorhaben würde ich noch beginnen?
  • Würde ich noch Sport treiben oder Krafttraining?
  • Veränderte sich mein Anspruch beim Joggen, der Ernährung, der Körperpflege?
  • Hätte ich noch den Antrieb, eine Sprache zu lernen? Lohnte sich das noch?
  • Spiele ich mehr oder weniger mit den Kindern? Intensiviere ich Familienkontakte oder limitiere ich sie?
  • Welche Bücher möchte ich noch lesen?
  • Pflege ich Beziehungen weiter, online oder offline? Gehe ich neue Beziehungen ein?
  • Was würde ich vertagen, was sofort beginnen?
  • Will ich in die Ferne reisen oder die Nähe kennenlernen?

Wenn ich mir so den einen oder anderen Punkt ansehe, dann würde es für mich schon einen Unterschied machen, ob ich noch 9 Monate, zwei oder zwanzig Jahre hätte.

Aber was fange ich mit dieser Überlegung nun an? Wir wissen ja im Normalfall trotzdem nicht, wie viel Zeit wir noch zu leben haben? Als Zivi habe ich in einem Alten- und Servicezentrum gearbeitet und unter anderem einen Französisch-Anfängerkurs unterrichtet. Dabei war eine Dame, welche mit Mitte 70 sich dieser Sprache widmete und begeistert französische Rezepte lernte. Diese Haltung hatte mich damals sehr beeindruckt und auch heute könnte ich mir das für mich wohl nicht vorstellen. Ich glaube, da käme mir mein manchmal vorhandener Perfektionismus in die Quere und ich traute mich diesen Schritt nicht mehr.

Aber wenn ich an all die Flecken auf unserer Erde denke, welche ich noch nicht gesehen habe, könnte ich mir überlegen, was ich noch unbedingt mit eigenen Augen sehen möchte. Wenn es theoretisch einmal jährlich für eine Fernreise langen würde und ich nun 48 bin, könnte ich bis 78 (was schon recht optimistisch wäre – mein Vater wurde zum Beispiel nur 49) noch 30 Ziele dieser Welt besuchen.

Ich glaube, wir können von diesen Überlegungen keine konkreten Antworten erwarten. Aber diese Gedanken können helfen, sich über Prioritäten und die Werte im eigenen Leben klar zu werden. Die Fragen können helfen, den eigenen Kompass zu justieren und aus bequemen Gewohnheiten auszubrechen. Denn wie oben geschrieben, leben wir in einer Multioptionsgesellschaft, in welcher unser Umfeld nur noch marginal unseren Lebensstil verpflichtend bestimmt. Das Bewusstsein um die Endlichkeit der eigenen Existenz, das Klarwerden, dass dieses Leben der einzige Versuch ist, kann hilfreich sein, um aus sozialen oder selbst gesetzten Zwängen und bequemen Gewohnheiten auszubrechen. Und diese Gedanken helfen, sich über die Frage der aktiven oder passiven Lebensgestaltung klar zu werden. Wo will ich „der Bestimmer“ meines Lebens sein, wo konsumiere ich passiv? Wie viel Zeit verbringe ich lesend im Internet, wie viel Zeit schreibe ich eigene Texte? Wie viel Zeit verbringe ich vor dem Fernseher uns konsumiere das Angebotene, wie viel Zeit lese ich frei gewählte Bücher, welche nie verfilmt wurden?

Eine spannende Frage ist für mich auch: „Wie würde ich mich verhalten, wenn es niemand jetzt oder in der Zukunft bemerken würde?“ Also, was würde ich wirklich nur für mich, als der Person die ich heute bin, machen?

Was würde ich machen, wenn ich einfach ignoriere, wie mein bisheriges Leben im Guten und im Schwierigen war? Was behalte ich bei und was mache ich neu?

Und so betrachtet ergibt die Kalenderblattweisheit „Heute beginnt der Rest Deines Lebens“ doch einigen Sinn.

Gutes Denken!

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