Gelesen: Stille. Ein Wegweiser – von Erling Kagge

»Was ist Stille? Wo ist sie? Warum ist sie heute wichtiger denn je?« Mit diesen drei zentralen Fragen im Gepäck macht sich Erling Kagge auf die Suche nach dem Wesen der Stille.

Die drei eingangs genannten Fragen leiten ihn und bringen ihn letztlich zu dreiunddreißig Versuchen einer Antwort.

Das Buch trägt den Untertitel „Ein Wegweiser“ zu Recht. Denn Wegweiser zeigen nur Richtungen an. Sie erklären nicht, geben keine letzten Antworten. Das Entdecken und Bewerten bleibt dem vorbehalten, der den Weg geht. Der Wegweiser nimmt dies nicht ab. Und so sind wir Lesende eingeladen, uns mit den Impulsen aus Erling Kagges Buch selbständig auf den Weg zu machen, unseren Umgang und unseren Weg zur Stille zu entdecken.

Erling Kagge greift auf seine reichhaltige Biografie zurück, um das Phänomen Stille zu erforschen. Und Stille kennt er wahrlich. Alleine 50 Tage alleine zu Fuß zum Südpol, nur von den Geräuschen der Natur und seines Schlittens begleitet. Erling Kagge, Jahrgang 1963, ist Verleger, Autor, Jurist, Vater dreier Töchter. Der Norweger hat als Erster die drei Pole erreicht – den Süd- und den Nordpol und den Mount Everst. In »Stille« machte sich auf den Weg, die Stille in ihren Facetten zu entdecken.

Aber auch Wittgenstein, die Performancekünstlerin Marina Abramovic, Elon Musk und weitere Persönlichkeiten aus der Philosophiegeschichte sowie seinem großen Bekanntenkreis kommen in Zitaten zu Wort. In der Musik liebt er beispielsweise die Stille, die Pausen zwischen den Noten. Hier erwacht er buchstäblich. Ja, er ist nicht nur Abenteurer, sondern auch belesener Verleger seit Jahrzehnten.

Das Buch hat keine nachvollziehbare Chronologie, aber das schadet nicht. Denn die Kapitel können jedes für sich gelesen werden und bauen nicht aufeinander auf.

Historisch beginnt er bei Jesus und Buddha. Beide zog es in die Stille, um herauszufinden, wie sie leben sollten. »Jesus ging in die Wüste, Buddha in die Berge und an einen Fluss. In aller Stille hat sich Jesus auf seine Begegnung mit Gott vorbereitet. Der Fluss lehrte Buddha zu hören, stillen Herzens, empfänglich, offenen Geists.«

So manches Zitat kennt man mittlerweile. So wie das berühmte von Blaise Pascal aus dem 17. Jahrhundert: »…alles Unglück der Menschen kommt davon her, dass sie nicht verstehn, sich ruhig in einer Stube zu halten.«

Auch Gesellschaftskritik scheint durch: »Lärm schafft auch Klassenunterschiede. Geräusche, die ein anderer macht und nicht der, der davon gestört wird, Geräusche aus zweiter Hand, führen zu großer Ungleichheit in der Gesellschaft. Menschen im Niedriglohnsektor müssen mehr Lärm am Arbeitsplatz ertragen als Besserverdienende, und ihre Wohnungen sind schlecht gegen den Lärm vom Nachbarn isoliert.«

Können wir uns an den Verlust von Stille gewöhnen? Nein, sagt Kagge: »Ja, wir lernen, mit dem Lärm zu leben, weil wir meinen, dass wir es müssen, aber Lärm ist und bleibt ein Moment der Unruhe, der die Lebensqualität reduziert.«

Das Gegenteil von »Stille« sind in seiner Analyse das Geräusch, der Lärm, die Ablenkung durch all die äußeren Einflüsse, die suchterzeugende Wirkung des Geräusche von Bildschirm und Tastatur. »Stille ist nicht in erster Linie wichtig, weil sie besser ist als Lärm, obwohl Lärm oft mit negativen Dingen wie Unruhe, Aggression, streit und Gewalt verbunden ist.« Denn »Ablenkung bedeutet, von sich selbst weggezogen zu werden.«

Evolutionsbiologisch sind wir nicht auf »Stille« vorbereitet. Unser Gehirn ist immer im Status latenter Aufmerksamkeit und das innere Belohnungssystem belohnt die Erwartung und nicht das Erreichen, den Ist-Zustand. »Es ist zufriedenstellender, etwas zu erwarten und zu suchen, im Kreis zu gehen, als einfach damit zufrieden zu sein, dass man erreicht hat, was man wollte.«

Gibt es noch mehr Gründe, warum uns die Stille so schwerfällt? »Ist Stille die Furcht, sich besser kennenzulernen?«, wie Kagge schreibt? Meiden wir sie deshalb und beschäftigen wir uns irgendwie, tun das am Nächsten liegende? Kagge meint dazu: »Ja, reden, genau das soll die Stille tun. Sie soll reden, und du sollst mit ihr reden und das Potential nutzen, das darin liegt.«
Für Erling Kagge ist »die interessanteste Stille diejenige, die in mir ist. Eine Stille, die ich in gewisser Weise selbst schaffe. Daher suche ich nicht mehr nach der absoluten Stille um mich herum. Die Stille, auf die ich aus bin, ist die Stille in mir.«

Stille als Luxusgut unserer lauten und aufgeregten Gesellschaft? Eine seiner Töchter formulierte es so: »Stille ist das einzige Bedürfnis, das diejenigen, die ständig auf der Jagd nach etwas Neuem sind, niemals erfahren werden.« Und Kagge an anderer Stelle in gleicher Zielrichtung: »Man muss nicht nach Sri Lanka reisen, man kann Stille auch zu Hause in der Badewanne erleben.«

Zum Schluss ein ausführlicheres Zitat. Es spricht mich, wo ich gerade auf Juist diese Zeilen schreibe und einige herrliche Herbst-Sonnenstunden auf den Dünen verlebte, besonders an:

»Das Sommerlicht war zurückgekehrt, der Winter war vorbei, überall tauchten neue Farben auf. Die Bedingungen waren fantastisch, und Helberg begann die Wanderung, indem er jedem Teilnehmer ein Blatt Papier überreichte, auf dem Stand: Ja, es ist ganz fantastisch. (…) Er wollte vermeiden, dass die Gruppe sich den ganzen Tag lang gegenseitig erzählt, wie fantastisch es ist, statt sich auf das Fantastische zu konzentrieren. Worte können eine Stimmung zerstören.«

»Das eine Universum erstreckt sich nach außen, das andere nach innen. Mich interessiert eher Letzteres.«, beschließt Kagge seine Überlegungen. Mich hat gefreut, dass er uns als Leserinnen und Leser in seinen 33 Gedanken an seiner Expedition zum Wesen der Stille teilhaben lässt.

Erling Kagge: Stille – ein Wegweiser, Insel Verlag, 2017

3 Gedanken zu „Gelesen: Stille. Ein Wegweiser – von Erling Kagge“

  1. Guten Morgen Kai, vorgestern wurde das Buch im heute journal vorgestellt und es hat mich sehr angesprochen. Denn ich liebe Stille. Ich sag dann immer: HORCH! 🙂
    Ich brauche das, die Stille … und es ist schön sie zu „hören“.

    Ich werde deine Rezension heut in meinem Blog verlinken. Wirst sehen.
    Schönen Tag und mein Vater liebte Juist, ich war noch nie da.
    Herzlich. Petra

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