Ich weiß, was ich wissen will. Oder?

Das Thema „Wissen“ bekommt gerade eine neue Qualität für mich. Ich bemerke, dass ich in letzter Zeit häufiger auf Themen stoße, von denen ich zuvor nie etwas hörte bzw. mir keinerlei Gedanken über sie machte. Und ich merke, dass mich – jetzt, wo die Jungs mich etwas weniger in Beschlag nehmen – wieder Zeit habe, mich mit Themen inhaltlich zu beschäftigen. Aber im Gegensatz zu früher, verklärte Studentenzeit, ist das Zeitkorsett des Alltags doch sehr eng, so dass jede neue Aktivität gut überlegt sein will. Und es ist nicht nur das Korsett des Alltags, es ist auch das Gewahrwerden der eigenen Sterblichkeit. Mit fast 50 bleibt objektiv weniger Zeit als mit Anfang 20, wenn das Leben schier unendlich wirkt. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – so fühle ich mich manchmal.

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – das Wissen dieser Welt

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, wird Sokrates zugeschrieben und gerne zitiert. Wie Wikipedia erläutert,  „besagen die Äußerungen des Sokrates nach Platons griechischem Text nur, dass er sich des Umstands bewusst sei, dass ihm Weisheit oder ein wirkliches, über jeden Zweifel erhabenes Wissen fehle. Zudem geht es dem platonischen Sokrates nicht um das technische Fachwissen, sondern um Bestimmungen im Bereich der Tugenden und die Frage nach dem Guten.“

Bis zur Zeit Goethes, so die immer wieder gehörte These, war es durchaus möglich, als Universalgelehrter ein extrem breites Wissen seiner Zeit verfügbar zu haben. Wenngleich ich dann bei diesen Universalgelehrten auch bezweifele, dass ihnen beispielsweise die Handwerkskünste wirklich geläufig waren und nicht nur die Wissensbestände aus Natur- und Geisteswissenschaft.

Aktivitäts-, Wissens- und Fähigkeitverlockungen

Ein Instrument, eine Sprache, Programmieren, Kartentricks, Nähen, Schreinern, Bonsai pflegen, das Haus „smart“ ausrüsten … schier unendlich ist die Verlockung interessanter Themen. Von der erdrückenden Menge der lesenswerten Bücher, hörenswerter Musik und sonstiger kultureller Höhepunkte ganz zu schweigen.

„Wenn er [der Mensch] die Dinge hat, die zum Leben nötig sind, so gibt es noch andere Bestrebungen, als sich um das Überflüssige zu bemühen: es steht ihm jetzt frei, sich dem Leben selbst zuzuwenden.“, schrieb Henry D. Thoreau.  Einverstanden. Aber: Was machen wir nun, wo wir die Dinge haben, die zum Leben nötig sind?

Was machen wir, zum Beispiel, mit der Welt? Die will doch auch gerettet werden. Wenn das eigene Dasein im historischen und globalen Maßstab mehr als üppig gesichert ist, könnte (oder müsste?) man sich ja auch der Weltrettung im kleineren oder größeren Maßstab verschreiben. Doch auch hier: Wo fange ich mit meinem Engagement an? Wasserversorgung, Malariaprophylaxe, Toiletten für alle, Bienensterben, Energiekrise, CO2-Ausstoß, Meeresverschmutzung, Ozonloch, Sklavenhandel, Unterernährung, Kindersterblichkeit, Bürgerkriege, Flüchtlingshilfe, Hausaufgabenbetreuung, Vorlesepate …?

Leben in der Fülle – menschheitsgeschichtlich völlig neu

Noch nie in der Geschichte der Menschheit wussten wir so viel. Noch nie hatten wir die Chance, mit wenigen Mausklicks mehr Wissen abzurufen als frühere Generationen in einem ganzen Leben verarbeiten durften.

„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Müsste dieser Satz heute nicht eher lauten: „Ich kann alles wissen. Aber ich weiß nicht, was ich wissen muss.“?

Wir müssen lernen, mit dieser ungeheuren Wissensflut umzugehen. Das scheint sich immer stärker zur zentral geforderten intellektuellen Fähigkeit unserer Zeit herauszubilden. Und das ist kein triviales Problem. Denn gleichzeitig sehe ich, wie sich Menschen in ihrer Überforderung von all diesem Wissen abwenden, ihr Heil in einfachen und oft nationalistischen-stereotypen und antiwissenschaftlichen Wahrheiten suchen, Verschwörungstheorien anhängen.

Früher waren es die Grenzen der Sippe, der Stände, der Fürstentümer und Staaten, die gesellschaftliche Stellung durch Geburt und der Zufall von Gesundheit und Nahrungslage, ob überhaupt daran gedacht werden konnte, Wissen und Fähigkeiten zu entwickeln. Heute leben wir in so vieler Hinsicht im Überfluss, so dass wir die Kunst der Entscheidung aus der Fülle lernen müssen.

Aus der Fülle auswählen dürfen – und ja, auch müssen – , das gab es noch nie in der Menschheitsgeschichte. Die einzige Fülle war die, welchen Tod man zu sterben hätte. Ansonsten war alles knapp: Nahrung, Sexualpartner, Kleidung, Waren, Freiheit, Lebenschancen, Frieden. Wir sind evolutionär darauf getrimmt, Entscheidungen aus der Mangelsituation heraus zu treffen. Und das heißt: Mach‘ nicht lange herum, greif zu, die Gelegenheit kommt nicht wieder. Wenn sich dir eine Gelegenheit bietet, dann pack‘ sie beim Schopf.

Daher haben wir kein Sensorium, keine Verdrahtung ins uns, um aus unzähligen Optionen auszuwählen. Stunden- und tagelang sitzen wir vor dem PC und recherchieren nach der idealen Regenwassertonne. Und zuletzt bestellen wir sie doch nicht. Oder wir fahren einfach zum nächsten Baumarkt und kaufen dort, Augen zu und durch, die erstbeste, welche am Hof steht. Das Sonderangebot als große Abkürzung auf dem Weg des Abwägens.

Ein „Ja“ gebiert viele „Nein“

Wie viel Zeit will ich für etwas investieren? Wer nicht will, muss nichts produktives machen, kann sich durch TV, Twitter, YouTube, Newsfeeds, RSS-Feeds etc. den ganzen Tag beschallen lassen. Wobei, der Seitenhieb ins Bildungsbürgertum sei gemacht, ist dabei der Unterschied zum Bücherwurm der letzten zweihundert Jahre auch nicht groß. Das Medium ist ein anderes, gleich bleibt viel Input, wenig Output.

Wenn ich etwas machen will, ein „Ja“ zu einer Aktivität gebe, dann ist das nicht nur ein einfaches „Ja“. Es ist gleichzeitig ein „Nein“ zu einer anderen Sache. Und es ist nicht nur ein (!) „Nein“, es ist ein zehn-, ein hundert-, ein tausendfaches „Nein“.

Und dieses zigfache „Nein“ kann ein „Du hast die falsche Entscheidung getroffen“ bedeuten. Nun, wenn ich nicht das ideale Smartphone oder die optimale Regenwassertonne kaufe, ist das in der Konsequenz sicher unproblematisch. Mit aufwändigeren Hobbies oder Lebensentwürfen ist es schwieriger. Jede Wahl beinhaltet die Option des Scheiterns. Jedes „Ja“ trägt in sich die Hoffnung, dass so schnell nichts besseres, attraktiveres kommt.

Die scheiternde Vergleichsgesellschaft

Wir können uns jederzeit vergleichen: unsere Familie, unseren Besitz, unsere Fähigkeiten, unseren Charakter, unsere Begabungen. Vor 30 Jahren war der Vergleich noch im Wesentlichen auf unser direktes Umfeld begrenzt oder auf die verhältnismäßig kleine Zahl an Menschen, über welche im Fernsehen oder in Illustrierten berichtet wurde. Doch etwa seit 1998, so zumindest meine Wahrnehmung, kam mit der breiteren Wahrnehmung von Newsgroups und privaten Websites, ein völlig neuer Blick hinzu. Seither kann ich zu jeder x-beliebigen Neigung, Fähigkeit, Interessenslage mit wenigen Mausklicks Gleichgesinnte treffen. Und ich treffe dort nicht irgendwelche Leute. Ich treffe dort häufig „Profis“, also Menschen, welche sich intensiv auf dem jeweiligen Gebiet tummeln, hohe Expertise haben. Ob CB-Funk, Intimrasur, Bafußwandern, Fahrrad-Tuning, Kochen, Reisen, Fotografieren … die Fülle scheint unendlich.

Und diese Möglichkeit des Vergleichs ist verheerend. Denn evolutionär sind wir auf Vergleich getrimmt. Denn die Ähnlichkeit zu den Maßstäben der eigenen Sippe sicherte das eigene Überleben. Nur in der Gemeinschaft war ein Überleben auf Dauer möglich. Abweichendes Verhalten führt – da hat sich wenig verändert – schnell zum Ausschluss aus einer Gruppe, damals zum physischen und heute zum sozialen Tod.

Eine große Veränderung zu früher ist, dass nicht nur irgendeine Inselbegabung den einen vom anderen unterscheidet oder als Unterscheidungsmerkmal dient. Es geht nicht um Spezialistenfähigkeiten. Wir wissen seit Schultagen, dass es immer Bessere oder weniger Begabte gibt, von Sprachen, über Mathe, Musik bis Sport – wir kennen Unterschiede.

Doch heute steht gleich unsere gesamte Lebensführung auf dem Prüfstand. Denn für jeden noch so kleinen Aspekt unseres Lebens lassen sich Profis finden. Waren es früher die abendlichen Heile-Welt-Szenen im 5-Minuten-Werbeblock, sind wir heute permanent von Perfektem umgeben. Was wir dabei nicht sehen, ist, dass diese Perfektion sich meist nur auf einen Ausschnitt des Lebens bezieht. Dass jede dieser auf einem Gebiet perfekten Persönlichkeiten auf anderen Feldern völlig unperfekt sein kann. Aber die Summer der auf uns einprasselnden Perfektionen führt zu Verunsicherung bis Frustration. Das ist weit fordernder als noch vor 30-50 Jahren, als früher im Wohnviertel, der Schule, dem Verein. Dort fand der Vergleich innerhalb einer relativ homogenen Peergroup statt. Es gab ein „Oben“ und „Unten“, ein „Die“ und ein „Wir“. Heute weiß ich von meinen Nachbarn weniger als von den Kontakten auf Twitter, Instagram oder Facebook. Und aus der Vielzahl an internetbasierten sozialen Kontakten konstruiert sich der moderne Mensch ein ideales Vorbild, an dem er sich misst. Wir sehen uns von Perfekten umgeben: Müttern, Vätern, Arbeitnehmern, Entrepreneuren, Weltreisenden, Athleten, …

Früher war es der meist materielle Neid, der als Todsünde herhalten musste. Heute ist es der soziale Vergleich, der uns ins Unglück zu treiben versucht.

All dies schwingt im Kopf mit, wenn ich mich entschließe, mich einer Aufgabe, einem Wissensgebiet zu nähern. Was traue ich mich? Welchen Vergleichen stelle ich mich – oder auch nicht?

Resümee

  1. Wir haben schier unendlich viele Möglichkeiten, unser Leben zu gestalten.
  2. Die Anforderung, ständig die richtige Entscheidung zu treffen, überfordert uns potentiell.
  3. Wir vereinfachen unser Weltverständnis künstlich, damit wir ihrer Komplexität entgehen. Selektive Informationsaufnahme, Abschottung gegenüber Andersdenkenden und rigorose bis fanatische Haltung sind Merkmal dieser Einengung.
  4. Wir hadern mit unseren Entscheidungen, weil wir immer vermeintlich attraktivere Alternativen zur Auswahl haben.
  5. Unser Vergleich mit „Profis“ und patchworkartige Vorbildkonstruktion führt zu latenter Unzufriedenheit und Überforderung mit unseren Entscheidungen und uns selber.

Wir müssen eine wichtige Fähigkeit lernen: die Fähigkeit, zugleich weltoffen und interessiert zu sein, bei gleichzeitigem Wissen um die eigenen Ressourcen und die Notwendigkeit der Auswahl. Das ist die zu lernende Kunst.

Fürs Leben lernen heißt:

  1. Lernt, was gesunder Pragmatismus ist. Irgendwann ist genug recherchiert und gegrübelt.
  2. Wir können (theoretisch) alles haben und tun. Aber wir können (praktisch) nicht alles haben und tun.
  3. Soziale Vergleiche sind nicht per se schlecht. Aber wir müssen verantwortungsvoll und im Wissen um unsere eigenen Stärken und Fähigkeiten damit umgehen. Und unser Vergleich zeigt immer nur einen Ausschnitt des Vergleichs-Subjekts.
  4. Ich muss mich aktiv entscheiden, was ich wissen oder lernen möchte. Und ich muss akzeptieren, dass jede Auswahl auch eine Abwahl vieler anderer Möglichkeiten bedeutet.

„Ich weiß, was ich will. Ich kenne meine Grenzen und den für mich verträglichen Maßstab.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert