Die undurchlässige Gesellschaft

Im Januar fielen mir gleich zwei Tweets auf, welche mich bedrückt und etwas ratlos zurück ließen. Einmal ging es um ein jugendliches Mädchen, welches in einer Jugendhilfeeinrichtung lebt und nicht zu ihrem Freund kann, da dessen Eltern nicht erfahren dürfen, dass sie „Heimkind“ ist.

https://twitter.com/finallyarrived/status/951927255420325893

Und beim zweiten Tweet las ich, wie ein Kind (samt seiner Eltern) ein anderes abwertete, weil dieses mit seiner alleinerziehenden studentischen Mutter im Vergleich sehr arm wäre:

Dieses Abgrenzen nach „unten“, diese Abgrenzung von Menschen mit niedrigerem ökonomischem oder sozialem Status empört uns, die Reaktionen auf Twitter sind eindeutig. Ja, solches Denken sollte eigentlich Vergangenheit sein.

In Filmen, in der Literatur oder in autobiografischen Erzählungen freuen wir uns mit jedem Kind, welches einen Mentor findet, der es aus seinem oft ärmlichen oder gewaltgeprägten Milieu holt und die Chance zu einer positiven Entwicklung bietet. In der Theorie sind die breiten bürgerlichen Schichten sofort dabei, wenn es Kindern gelingt, Kontakt zu Familien mit höherem sozio-ökonomischen Status aufzubauen. Wir wünschen ihnen den „Aufstieg“. Zwei Beispiele fallen mir spontan ein: Einmal der Autor Peter Rosegger (Biografie auf Wikipedia) und einmal ein ehemaliger Kollege, der seine Biografie verschriftlicht hat, Volker Häberlein (Herkunft chancenlos, Eigenverlag, hier bei A.).

Wasser in den Wein, raus aus der Wohlfühlblase:

Schon bei den eigenen Kindern kollidiert unsere Vision einer gerechten und durchlässigen Gesellschaft schnell mit dem Bedürfnis, für die eigene Familie das Beste zu erreichen. Und dieses Abgrenzen ist im Alltag eine sehr fließende Angelegenheit. Spontan fallen mir einige Beispiele ein:

  • Das fängt mit der Einladungsliste zum Kindergeburtstag an. Nehmen wir als Eltern Einfluss darauf? Lassen wir zu, dass das lautere und manchmal aggressiv auftretende Kind teilnimmt? Laden wir ein Kind mit AfD-nahen Eltern ein?
  • Wir hoffen auf eine lernwillige, ruhige Schulklasse für unsere Kinder. Das „inklusive“ Kind mit Schulbegleiter oder Kinder aus Migrantenfamilien irritieren uns. Nicht zuletzt deswegen boomen in manchen Städten/Stadtvierteln die Privatschulen oder konfessionellen Schulen mit exklusiver Schülerschaft.
  • Wir suchen unsere Wohnung danach aus, welche Namen sonst noch auf den Klingelschildern stehen.
  • Wir gönnen unseren Kindern die Kontakte zu „besseren“ Familien, sind aber gleichzeitig besorgt, dass sich dadurch die materiellen Ansprüche an Elektronik-Gagdets, Kleidung oder Urlaube der eigenen Kinder an die der Freunde anpassen. Abgrenzung nach „oben“.

Unsere Vorliebe für literarische oder historische Aufstiegsgeschichten hält an. Wir lieben die Underdogs, welche aus einfachsten Verhältnissen berühmte Schauspieler oder Genie in irgendeinem Fachgebiet wurden. Und jedes abweichende Verhalten – Mitgliedschaft in einer Gang etc. – wird positiv verklärt, solange nur der Weg in Richtung des etablierten Bürgertums eingehalten wird. Wir lieben Sozialromantik, solange sie retrospektiv ist und in einem Happy End endet. Wir ignorieren und übersehen die Schwierigkeiten und Widrigkeiten des wahren Lebens.

Um unseren Zwiespalt mit einem populären Beispiel zu illustrieren: Wer von denen, die Pippi Langstrumpf ihren Kindern vorgelesen haben, möchte, dass die eigenen Kinder mit jemandem wie Pippi Langstrumpf Kontakt hat? Einem Mädchen, welches alleine mit Pferd und Affe lebt, sein Haus sporadisch verwüstet und alle Konventionen sprengt? 

Ich befürchte, wir sind vor diesem Denken alle nicht gefeit. Sogar Jugendhilfe-Profis vergessen oft ihre Professionalität, wenn schwierige Jugendliche kein Wohlverhalten zeigen. Das beweisen die Heim-Karrieren mancher Jugendlicher.

Wir müssen das Denken und Sprechen über andere reflektieren.

Was heißt das jetzt für uns? Was heißt das für mich? Wenn ich die beiden oberen Tweets als Ausgangsbasis nehme, dann sind für mich einige Botschaften klar:

  • Ich muss im Denken und Sprechen über andere reflektiert sein. Wo habe ich möglicherweise Vorurteile, wo empfinde ich anderen gegenüber Neid.
  • Ich muss vermeiden, wenn ich über andere Menschen spreche, Werturteile abzugeben. Diese werden von Kindern aufgenommen und reproduziert.
  • Ein Werturteil gebe ich schon ab, wenn ich eine mir auffällige Eigenschaft, zum Beispiel Armut, Homosexualität, Besitz, Reisen, Parteizugehörigkeit, Reinlichkeit etc. im Kontext einer Person als Eigenschaft mit erwähne, obwohl sie keinerlei Bezug zum Thema hat. So wurde in meiner Familie bei manchen Sängern bei jeder Namensnennung – gewissermaßen als Präfix – die Wendung „der schwule xy“ vorgesetzt. Oder es spielte immer eine Rolle, wie aufgeräumt es bei jemandem war. So etwas prägt sich ein.

Und als Eltern sollten wir uns zurückhalten, wenn wir den Eindruck haben, die Kinder haben einen falschen Umgang. Nicht jeder „falsche Umgang“ ist gleich eine entwicklungs- oder lebensbedrohliche Gefährdung. Seien wir froh, wenn Kinder untereinander andere Qualitäten wahrnehmen, als wir es tun. Und wer sagt denn, dass unsere Kinder die „schwächeren“ sind? Vielleicht orientiert sich ja das andere Kind am eigenen Kind (das ja qua Definition immer das liebere, bravere ist) …

Bei aller Empörung über Verhalten, wie in den obigen Tweets geschildert: Wer ganz frei von Abgrenzung ist, werfe wie immer den ersten Stein. Und alle anderen dürfen ihr Alltagsverhalten reflektieren.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert