Rezension: Einsortiert. Fragmente aus dem Leben einer Sortagefachfrau

Durch einen dieser Zufälle der Twitter-Welt stieß ich auf den Account von @Gminggmangg und darauf, dass sie ein Buch verfasst hat. Dieses wurde durch Crowdfunding finanziert und war just in diesen Tagen frisch gedruckt zum Verlag gekommen. Nach einem kurzen Blick auf die Website von Fabienne Sieger, so der bürgerliche Name von @Gminggmangg, war klar: Das Buch will ich haben. Die Direktbestellung beim Schweizer Autismus-Verlag ging flott und nach wenigen Tagen lag es im Postkasten:

 

Die äußere Aufmachung erinnert an einen Schweizer Landsmann von Fabienne Sieger, Ursus Wehrli. Seine Bücher „Kunst aufräumen“ und „Die Kunst aufräumen“ sind ja weithin bekannt. Aber hier geht es nicht um farbig sortierte Kunst. Wir werden in „Einsortiert. Fragmente aus dem Leben einer Sortagefachfrau.“ mit einer Bewältigungsstrategie für den sozial (über-)fordernden Alltag einer Frau mit Asperger Autismus bekannt gemacht. Die Autorin und Künstlerin Fabienne Sieger, Jahrgang ’84, lebt mit Mann und zwei Kindern in Bern und unterrichtet. Ein nach außen erst einmal unauffälliges Leben.Das Buch ist ein Kunstbuch, großformatig, festes Papier, Bilder aus drei Gebieten: Die Zutaten einer Mahlzeit werden akurat sortiert präsentiert. Zerbrochene Tassen werden in strengem Quadrat auf einer Holzplatte in ihrer Scherbenstruktur aufgeklebt, es wirkt wie Tiffany. In Pfützen spiegeln sich Strukturen, es ist fast nicht gegenständlich.

Das Buch ist aber insbesondere ein sehr persönliches Buch. Viele Texte laden ein: Fabienne Sieger lädt uns wortgewaltig und mit Sprachwitz in ihre Welt, die Welt einer Frau mit Asperger Autismus, ein. Es ist eine besondere Welt, die uns „normal“ sozial empfindenden Menschen befremdlich und irritieren vorkommt. Sie beschreibt, wie sie mit ihrer sozialen Behinderung den Alltag wahrnimmt und mit ihm, mal besser, mal schlechter, umgehen kann.

Der Besuch von Freunden, das Pendeln zur Arbeit, die Rituale der Begrüßung, Geschenke, Reisen, etc. sind lauter alltägliche soziale Situationen, welche wir im Normalfall ohne jedes Nachdenken routiniert absolvieren. Menschen mit Asperger Autismus stellen diese sozialen Situationen vor ernsthafte Herausforderungen bis Probleme. Manches mag uns zum Schmunzeln bringen, beispielsweise dann, wenn die in der Schweiz üblichen drei Begrüßungsküsse zu einer ungleichmäßig wahrgenommenen Körperabnutzung führen, welche irgendwie ausgeglichen werden muss. (Nebenbei bemerkt: Das ist etwas, was mich als Deutsch-Schweizer zu Kindertagen bei den Tantenküsschen auch immer irritiert hatte. Ich weiß heute noch nicht, auf welcher Seite man damit beginnt und warum es gerade drei sein müssen …)

Spannend ist zu lesen, wenn unregelmäßig verlegte Bodenplatten zu unsymmetrischem Empfinden an den Füßen führen und der Weg durch den Bahnhof und die Straßen nach Plattenprofilen als mehr oder weniger angenehm wahrgenommen wird. Als passioniertem Barfußläufer ist mir der Blick auf den Boden und die Wahrnehmung der Untergründe nicht fremd, aber die Wirkung auf das psychische Wohlbefinden hätte ich so nie vermutet.

Doch woher kommt das Sortieren? Es ist ein, nein, das Ventil für Streßabbau bei (Über-)fordernden Situationen. Dabei hilft das Sortieren von Gemüse und andere Speisen, sowie das Zeichnen komplexer dreidimensionaler Kästchen-Bilder, den Kopf und die körperliche Unruhe zu bewältigen.

Fabienne Sieger ist aber keineswegs nur in den heimischen vier Wänden anzutreffen. Sie arbeitet und bereiste mit ihrer Familie im Mercedes-Bus weite Teile Europas und Nordafrikas. Auch hier helfen ihr klare und vorab geplante Rituale, Regelmäßigkeiten im Tagesablauf und gedanklich vorformulierte Antworten auf zu erwartende Fragen.

Fabienne Sieger schreibt einfach fein. Eine ausgefeilte Sprache und ironische Zuspitzungen, welche ich sonst nur bei großen Kolumnisten wie Axel Hacke las. Im Klappentext heißt es, das Buch sei ein „fragmentarisches Sammelsurium von Texten über Alltäglichkeiten, Denkvorgänge, Anleitungen und Ansichten, geprägt von autistischer Wahrnehmung und angemessener Selbstironie.“

Ein klein wenig habe ich die Befürchtung, dass bei flüchtigen Lesern, der ironisch wirkende Stil die realen Probleme im Leben mit Asperger Autismus überdeckt, das Leben mit dieser Diagnose „witzig“ wirkt.

Mir hat dieses Buch sehr gut gefallen, sowohl künstlerisch als auch textlich. Eloquent, unterhaltsam, informativ und satirisch lesen sich die Texte. Es hat mir die Welt des Asperger Autismus, die sicher sehr vielfältig ausgeprägt ist, näher gebracht als so mancher Wikipedia-Artikel (die ich schon las, da der Sohn von Freunden diese Diagnose hat). Danke!

Das Buch kostet 44,- Euro (zzgl. 6,- Euro Versand nach Deutschland). Ich wünsche ihm eine rege Nachfrage. Und wenn ich einen Wunsch frei habe: Es wäre schön, wenn das Buch, evtl. kleinerformatig und mit schmäleren, besser lesbaren Spalten aufgelegt würde. Dann könnte es günstiger vertrieben werden und eine breitere Leserschaft finden. Es hätte es verdient.

Fabienne Sieger hat einen kleinen Kunstblog, über welchen man auch Kaufanfragen loswerden kann.

Sieger, Fabienne: Einsortiert. Fragmente aus dem Leben einer Sortagefachfrau; Autismusverlag; St. Gallen; Schweiz. 44,- Euro zzgl. 6,- Euro Versand nach Deutschland.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert